Frankreichs bekannteste Gestalterin scheut sich nicht, über Geld zu sprechen (2024)

Frankreichs bekannteste Gestalterin scheut sich nicht, über Geld zu sprechen (1)

Inga Sempé

Von JASMIN JOUHAR (Text) und LORRAINE HELLWIG (Fotos)

16. April 2024 · Die Welt der Dinge ist ihr Zuhause. Frankreichs bekannteste Gestalterin liebt Fabriken und Flohmärkte – und scheut sich auch nicht, über Geld zu sprechen. Zu Besuch bei Inga Sempé.

Nitouche und Oupette streifen lautlos durch den Raum. Die eine schreitet die Wendeltreppe hinab. Die andere legt sich ins Regal mit den Materialien, auf einen Stapel Pappen. Die Katzen sind kaum auseinanderzuhalten, beide haben hellbraun-schwarz gestreiftes fluffiges Fell. Eine schnuppert am Mantel der Besucherin, während die andere auf den langen Besprechungstisch springt und das Gebäck anpeilt. Als die Fotografin das Regal mit den Leuchten und Keramiktöpfen aufnimmt, drängelt sich eine zwischen die Gegenstände und setzt sich in Pose.

Die Designerin Inga Sempé teilt ihr Studio nicht nur mit zwei Mitarbeiterinnen und jeder Menge Modelle, Materialmuster, Papiere und Krimskrams – sondern auch mit zwei sibirischen Katzendamen. Wobei teilen nicht ganz treffend ist, eigentlich sind Nitouche und Oupette gefühlt die Chefinnen im Raum, wie es sich für Katzen ja auch gehört. Als eine der beiden die große Pappbox auf dem Besprechungstisch ansteuert, steht Inga Sempé allerdings schnell auf und stellt eine Platte vor die seitliche Öffnung. Hier sollte das Tier besser nicht hineinklettern – es handelt sich um das Modell eines Raums für das Mailänder Ausstellungshaus Triennale. Miniaturversionen von Sempés Möbeln stehen im Modell, aus Papier gebastelt, das Ruché-Sofa für Ligne Roset, der Hocker Tripot für Fogia, die Einbauküche Column für Reform. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche, ein Bad – wie in einer richtigen Wohnung. „The Imperfect Home“, das unvollkommene Zuhause, heißt Sempés Soloschau, die von Dienstag an pünktlich zur Möbelmesse Salone del Mobile in der Triennale zu sehen ist.

„Ich mag keine Designausstellungen“, sagt die Sechsundfünfzigjährige, als sie das Modell erklärt. „Ich mag es nicht, wenn man einen Gegenstand, der in Produktion ist, auf einen Sockel stellt wie eine berühmte Skulptur. Das ist absurd.“ Sie müsse nicht als Künstlerin angesehen werden: „Ich will einfach nur Designerin sein.“ Für die Ausstellung wollte sie eine Wohnung einrichten, aber keine perfekte wie aus einer Zeitschrift. Fernbedienungen sollen herumliegen und Rechnungen, die darauf warten, bezahlt zu werden. Es soll so aussehen, als wären die Bewohner nur kurz los, um Butter zukaufen. Aber Unordnung hin oder her, eine Katze im Ausstellungsmodell wäre wohl ungefähr so schlimm wie ein Elefant im Porzellanladen.

„Ich mag es nicht, wenn man einen Gegenstand, der in Produktion ist, auf einen Sockel stellt wie eine berühmte Skulptur.“

Inga Sempés Studio befindet sich in einem kuriosen Gebäude im 10. Arrondissem*nt von Paris, an einer ruhigen Straße zwischen Canal Saint-Martin und Gare de l’Est. Ein sieben Etagen hohes altes Backsteinhaus – charmant verbaut mit Schornsteinen, Gauben und den typischen Pariser Mansarddächern. Die Nachbargebäude links und rechts fehlen schon lange, sie wurden in den Sechzigern zugunsten eines riesigen Neubaus abgerissen. Eine Architekteninitiative rettete nur das eine Haus vor demselben Schicksal, so dass es seither ganz allein dasteht, mit dem neugebauten Monstrum als Faust im Nacken.

Die Räume im Erdgeschoss beherbergten einst eine Textilwerkstatt, vor zehn Jahren zog Inga Sempé ein. In der Etage darüber wohnt sie mit ihrer Familie, die Wendeltreppe verbindet beide Bereiche. Im Studio herrscht gepflegtes Chaos, wie man es häufig bei Gestaltern findet. Alles ist zwar aufgeräumt und an seinem Platz, die puppenstubenhaften Modelle von Sesseln und Sofas, die Mappen mit den Unterlagen, die Stapel mit gefalteten Textilmustern. Aber chaotisch wirkt es doch, weil zu viel von allem da ist. Vor dem Regal mit den Töpfen und Leuchten liegen noch zwei aufgerollte Teppiche auf dem Boden, dazu Pflanzen, ein antiker schwarzer Standspiegel und noch mehr Leuchten. Nur die Arbeitsplätze entlang der langen Wand mit den Glasbausteinen sind aufgeräumt. Der erste Platz gehört Sempé, sie sitzt auf einem Hocker, ihre Mitarbeiter auf Schreibtischstühlen.

Seit 2001 arbeitet Inga Sempé offiziell als selbständige Designerin, anfangs in ihrer Küche mit einem Notizbuch auf dem Tisch. Mindestens fünf Jahre habe es gedauert, so Sempé, bis sie halbwegs von ihrer Arbeit leben konnte. „Es war ein Kampf.“ Bis heute gibt es immer wieder wirtschaftlich schwierige Phasen, und Zweifel gehören für sie zum Job ohnehin dazu. Wer zu sehr von sich selbst überzeugt sei, wiederhole sich leicht oder kopiere andere Entwürfe. „Alle drei Jahre denke ich, ich sollte einfach aufhören.“ Ein Satz, wie man ihn nicht von vielen freiberuflichen Gestaltern hören würde. Doch Sempé ist erfrischend unerschrocken – und sie redet freimütig über Geld. Sie erinnert sich daran, wie sie in den Anfangsjahren mehr mit Vorträgen und Seminaren an Hochschulen als mit Möbeln und Produkten verdiente.

„Alle drei Jahre denke ich, ich sollte einfach aufhören.“

Dass sie trotzdem nie aufgab, hat auch mit ihrer Herkunft zu tun: Als Tochter der dänischen Illustratorin und Künstlerin Mette Ivers und des französischen Zeichners Jean-Jacques Sempé ist ihr die unsichere Existenz der freien Berufe von klein auf vertraut. Und von klein auf war Sempé auch fasziniert von den Gegenständen um sie herum, den gewöhnlichen Alltagsobjekten. Um solche Objekte zu machen, sei sie Gestalterin geworden, sagt sie. Sie versteht gar nicht, warum nicht alle Menschen Gestalter werden wollen. Schließlich seien wir alle vom Tag unserer Geburt an von Dingen umgeben, viel mehr als von Pflanzen oder Tieren.

Inga Sempé jedenfalls hat die Welt der Dinge seit Kindertagen gründlich studiert. Mit ihrer Mutter streifte sie über die Flohmärkte von Paris, vor allem über den Marché aux Puces „Vanves“ im Süden der Stadt. Das sei ihre Designausbildung gewesen. Es ging auch ums Kaufen – bis heute kauft Sempé überwiegend gebraucht –, aber vor allem ging es ums Schauen und Studieren der Objekte. Das mache sie immer noch so, „das ist meine Kultur“. Bücher über Design lese sie dagegen nicht, über die „ach so großen Meister“ der Geschichte wisse sie wenig. „Ich kenne die Namen der Objekte nicht, die Mies van der Rohe der Achille Castiglioni entworfen haben, nein!“ Dabei zieht sie das „No“ mindestens dreimal so lang wie nötig. Und grinst dann.

„Ich stellte immer Objekte her, die nützlich im Alltag sein sollten.“

Sie schimpft gerne, aber noch lieber lässt sie ihren feinen Humor aufblitzen. Wenn Sempé zu einem Gebrauchsgegenstand recherchiert wie etwa einer gusseisernen Grillpfanne, schaut sie sich auf Online-Handelsplattformen wie Ebay um. Da findet sie alle existierenden Varianten eines Dings, nicht nur die Exemplare, die es in die Designbücher geschafft haben. „Ich bin nicht an akademischen Hierarchien oder Urteilen interessiert.“ Erste Objekte schuf sie schon als kleines Kind. Sie erinnert sich daran, wie sie aus dem Kindergarten Holzstücke mitbrachte, um einen Rahmen für ihre Mutter zu bauen, für eine ihrer Zeichnungen. Später formte sie Aschenbecher aus Gips, bastelte Aufbewahrungskisten für die Tintenfläschchen der Mutter und sogar eine Tischuhr. „Ich stellte immer Objekte her, die nützlich im Alltag sein sollten.“ Auch genäht hat sie viel, übte sich im Umgang mit Stoffen. Diese Erfahrungen sind ihr bis heute nützlich.

Zur Liebe zu den Dingen kam später die Begeisterung für ihre industrielle Herstellung. Eine Fabrik zu besuchen, ist für sie eine der liebsten Aufgaben. „Man sieht die Menschen, die dort arbeiten, die Maschinen, man bekommt ein Gefühl für die Kultur des Unternehmens.“ Als Sempé an einem Sofa für den französischen Hersteller Ligne Roset arbeitete, fuhr sie viele Male in die Fabrik in der Nähe von Lyon, um an den Prototypen zu arbeiten. Vor allem an der Steppung probierte sie lange herum. Ruché, das Sofa mit dem Holzgestell und dem darübergelegten Polster, war ihr erster kommerzieller Erfolg. „Damit war ich nicht mehr unter Null.“

Der Weg zu diesem Wendepunkt war allerdings nicht geradlinig. Zwar wusste Inga Sempé schon als Jugendliche, dass sie Design studieren möchte, und hatte in einem Fernsehbeitrag von der Pariser Designhochschule ENSCI – Les Ateliers erfahren. Doch als sie sich die Schule dann anschaute, war sie nicht begeistert: Statt an Objekten zu arbeiten, sei vor allem darüber geredet worden, so ihr Eindruck. Sie fremdelte mit der akademischen Welt. Deshalb arbeitete sie zunächst in einer Hutwerkstatt, später als Assistentin einer Fotoagentin.

Dann studierte sie doch noch an der ENSCI, vor allem wegen der Werkstätten der Hochschule, wo sie sich aneignete, mit Holz, Metall und Plastik umzugehen. „Da habe ich eine Menge über Materialien erfahren. Ich hatte vorher gar kein Wissen über Techniken. Das lernt man nicht auf dem Flohmarkt.“

Die nächste wichtige Station war ihre Zeit im Studio des australischen Designers Marc Newson, der damals ein Atelier in Paris hatte. Er zeigte ihr, wie Industriedesign in der Praxis funktioniert, wie aus der ersten Skizze ein fertiger Gegenstand entsteht. „Man muss die Herstellungsprozesse verstehen“, sagt Sempé. Auch heute noch eignet sie sich mit jedem neuen Auftrag, mit jedem neuen Hersteller Wissen über Technologie und Fertigungsmethoden an. Wenn dann jemand sagt, es sei aus technischen oder ökonomischen Gründen nicht möglich, ihren Entwurf umzusetzen, weiß sie, ob das wirklich stimmt. Oder ob die Person nur „ein bisschen faul ist“. Weitere Stationen ihrer Karriere: zwei Jahre im Studio der legendären Interiordesignerin Andrée Putman und ein Jahr in Rom, als Stipendiatin der Académie de France in der Villa Medici.

Die Begeisterung für Alltagsgegenstände verbindet Inga Sempé auch mit einem ihrer aktuell wichtigsten Auftraggeber: der dänischen Designmarke Hay. „Mette und Rolf Hay lieben Objekte sehr, egal, ob es sich um eine Büroklammer oder um eine Kommode handelt“, sagt Sempé. „Sie haben eine Leidenschaft für Dinge.“ Für Hay hat sie ein Sofa, Spiegel und mehrere Leuchten entworfen, darunter das Modell Matin mit plissiertem Schirm, das neben Ruché zu ihren kommerziell erfolgreichsten Entwürfen gehört. In ihrem Studio ist Matin gleich in mehreren Ausführungen zu finden, als Tischleuchte und in Orange an der Decke.

Weitere Kunden sind der dänische Textilhersteller Kvadrat, die schwedische Leuchtenmarke Wästberg und Magis aus Italien. Zum Salone del Mobile präsentiert Sempé mit der Teppichmarke Nanimarquina aus Barcelona die Kollektion Colorado, handgemachte Teppiche mit einem Muster aus unregelmäßigen Streifen. Deutschland hingegen ist ein weißer Fleck auf ihrer Landkarte, bislang hat sie noch mit keinem deutschen Unternehmen gearbeitet oder hierzulande ausgestellt. Aber, so erzählt sie, es gebe da ein Konzept für ein Möbelsystem. Das wäre vielleicht etwas für eine deutsche Firma. „Ich bin gut im Entwerfen von Systemen, die nicht hart oder unsympathisch aussehen.“ Dann wechselt sie nicht zum ersten Mal während des Gesprächs vom Englischen ins Deutsche und sagt: „Ich kann ein bisschen Deutsch sprechen, deswegen können Sie anrufen oder mir schreiben.“

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